Demokratie kann die Voraussetzungen, die sie braucht um zu bestehen, nicht selbst schaffen. Sie ist nicht nur auf starke Institutionen angewiesen, sondern auch auf weniger klar definierbare Voraussetzungen: auf ein gewisses Grundverständnis, auf eine Art von Anständigkeit, Selbstkontrolle, Respekt im Umgang mit Anderen, Respekt vor Fakten. Wenn diese Voraussetzungen unterminiert werden, gerät die Demokratie aus dem Gleichgewicht und wird irgendwann zusammenbrechen.
Philipp Blom
in seiner Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, 27. Juli 2018
Am Ende von über 300 Jahren Parlamentarismus und nach mehr als 200 Jahren Französische Revolution haben Eliten in England und Frankreich zunächst einen sozialen und in der Folge politischen Trümmerhaufen hinterlassen. Philipp Blom plädierte daher in seiner Rede für einen neuen Mut zur Aufklärung. Sie „ist nötiger denn je“, meinte er, und: „Vielleicht ist es an der Zeit, endlich erwachsen zu werden.“
Inwieweit Aufklärung selbst in Kombination mit der „moralisch überlegenen“ Regierungsform Demokratie reichen wird, ist fraglich. Insbesondere dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung nicht erkennt (nicht erkennen kann), dass die Politik ihrer Regierung als in ihrem Sinne „schlecht oder verfehlt“ zu beurteilen ist?
Selektive Responsivität zeigt, dass diese „Verfehlungen“ in der Realpolitik existieren. Sie zeigt aber auch, wie wichtig institutionalisierte Solidarität ist, um Ausgrenzungspolitik gegenüber unterschiedlichen Interessensgruppen gegen Null tendieren zu lassen.
Soziale Ausgrenzung lähmt nicht nur das Verhalten von Menschen – siehe beispielsweise „Die Arbeitslosen von Marienthal„, sie kann auch politisch zu extremen Schieflagen führen. Deshalb wurde 1947 in Österreich die Notstandshilfe eingeführt. Die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung der politischen Ereignisse nach der Weltwirtschaftskrise sollte damit verringert werden.
Ein Menschenleben später sind diese Erfahrungen vergangener Generationen verblasst. Sie mögen zwar kognitiv bekannt sein, doch weder bei den Wähler*innen, noch bei federführenden politischen Parteien scheinen die möglichen Auswirkungen einer grassierenden sozialen Ungleichheit im Bewusstsein verankert zu sein. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: durch manipulatives Verhalten – verstärkt durch den Einsatz von Algorithmen – werden Menschen auf falsche Fährten gelockt oder bewusst desinformiert.
Zivilgesellschaft in Österreich „eingeengt“
In Kombination mit der Tatsache, dass wir in einer zunehmend komplexeren Mitwelt leben, die viele Menschen bei ihrer politischen Wahlentscheidung überfordert, ist es sinnvoll sich Gedanken zu machen über neue Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, auf Gesetzwerdungsprozesse einzuwirken. Damit soll gleichzeitig der Status einer „offenen“ Zivilgesellschaft auf Dauer gesichert werden.
Denn eines ist klar: wenn den Gewinninteressen beim Formulieren von Gesetzen in einem auf lange Sicht untragbaren Ausmaß der Vorrang eingeräumt wird, dann laufen wir Gefahr, die Gemeinwohlinteressen des Souveräns – also der Bürger*innen in unseren Demokratien – über Gebühr zu vernachlässigen. Das geht nur eine gewisse Zeit lang gut. So gesehen braucht es mehr Mitbestimmung, denn sie verheißt nicht nur eine gerechtere Mittelverteilung, sie ist auch ein Grund für eine höhere Arbeitsproduktivität und damit Wirtschaftlichkeit. Das gilt für einzelne Unternehmen wie für für den Staat als Ganzes (Negativ-Beispiel: 12-Stunden-Arbeitstag).
Initiativen zur Stärkung der Demokratie und Zivilgesellschaft gleichermaßen
Diskutiert werden daher neben der Stärkung direkt-demokratischer Mittel wie Volksbegehren und Volksabstimmungen auch neuere Formen gesellschaftlicher Teilhabe (Partizipation) wie beispielsweise Bürgerversammlungen in Irland (Citizens‘ Assemblies) oder Vorarlberg. Neben vielen Vorteilen gibt es aber auch den gravierenden Nachteil,

dass viele Themen lange Zeit keine relevanten Unmutsäußerungen erzeugen. Die Gewinninteressen hingegen werden zu jeder Zeit wahrgenommen und fallen daher nicht so leicht unter den Tisch. So bestimmt dann nicht mehr das angerufene Wahlvolk was das Richtige ist, das Gesetze zu tun oder zu unterlassen vorschreiben. Aufgrund bestehender Machtverhältnisse zählen selbst Volksbegehren nicht dazu, um Partikularinteressen Paroli zu bieten: keines der bislang in Österreich durchgeführten bewirkte eine unmittelbare Gesetzesänderung. Das populistische Spiel mit archaischen Mustern wie unseren verborgenen Ängsten vor dem Fremden kann hingegen rasch dazu führen, dass unvernünftige Wahlentscheidungen getroffen werden, während gleichzeitig nachhaltige Themen wie Klimaschutz oder soziale Schieflagen in der Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt werden – zum kurzfristigen Vorteil jener, die ua in alte Technologien (Stichwort: „Braunkohleverstromung“) investieren.
Eine überschaubare Anzahl spendabler Millionäre reicht bei Weitem nicht aus, um die gesellschaftsspaltende Existenz selektiver Responsivität aus der politischen Welt zu schaffen – mehr dazu in „Solidaritäts-Partnerschaft“
In Kombination mit den (Shareholder-)Interessen der Investierten, die die demokratische Gleichheit zB mittels KESt-befreiter Einlagenrückzahlung außer Kraft setzen, steigt die Gefahr der Erosion sozialstaatlicher Errungenschaften. Ein Kampf gegen Großspenden kann die negativen Auswirkungen für die Mehrheit in einer Demokratie mildern, Lücken bleiben dennoch bestehen. Sophie Schönberger: „Trotz dieser vergleichsweise umfassenden Regulierung weist der gesetzliche Rahmen jedoch deutliche, immer wieder folgenlos diskutierte Lücken und Umgehungsmöglichkeiten auf, die zum einen die Durchsetzung der bestehenden Regelungen, zum anderen aber auch weiterhin bestehende gesetzliche Lücken betreffen.“
So betrachtet liegt es nahe, sich für eine permanente Kontrolle der Zivilgesellschaft beispielsweise mittels Etablierung eines ÖkoSozialRates auszusprechen, der – im nationalen Gemeinwohlinteresse über die Möglichkeiten regionaler Bürgerräte und der Sozialpartnerschaft hinaus – mit einem absoluten Vetorecht ausgestattet wird, um so gesellschaftliche Schieflagen zu vermeiden – zum gesundheitsfördernden Vorteil von uns allen.
Reden wir darüber und über das was es braucht, um eine nachhaltigere Gesellschaft institutionell zu stärken. Das WIE (wir dazu kommen) wird sich dann schon finden lassen …
zB im Rahmen einer ZukunftsWerkstatt
Norbert Kersting: „Die Brücke zwischen repräsentativer parteidominierter und zivilgesellschaftlich geöffneter Demokratie kann nur geschlossen werden, wenn es gelingt, ‚Paralleldemokratien und -arenen‘ in integrierte Prozesse der Politik- und Gesellschaftsgestaltung zu überführen.“ (2008, S 32)
Die Etablierung einer Korruptionsstaatsanwaltschaft kann dabei unterstützend wirken, ebenso wie eine Institution, die über das Gemeinwohl wacht.
- Flugblatt „Ein gutes Leben für alle“ zum Download als pdf-Datei
Abschließende Bemerkungen
Einzelne Gütesiegel – so wertvoll sie jeweils sein können – sind kein annähernd brauchbarer Ersatz für gesellschaftliche Normen, die aus fruchtbaren Diskursen erwachsen, an denen Stakeholder aus unterschiedlichen, gesellschaftlich relevanten (Fach-)Bereichen beteiligt waren – inkl. Vertreter*innen einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft.

Der Verweis auf einen europäischen Pakt für sozialen Fortschritt in der EU führt auch weiterhin ins Leere und dies hat seine grundlegenden Ursachen, die Florian Rödl und Maria Seitz im November 2018 so beschreiben:
„Die rechtliche Verfassung des Binnenmarkts der Europäischen Union weist heute eine liberalistische Voreinstellung auf. Sie bringt die Verwirklichung von Gemeinwohlzwecken und sozialem Ausgleich in immer größere Schwierigkeiten.
…
Ursache dafür ist, dass der Europäische Gerichtshof die Marktfreiheiten als Unternehmergrundrechte konzipiert hat, die sich von Unionsebene aus parteilich zulasten von Gemeinwohl und sozialem Ausgleich auswirken. Die Folgen wiegen besonders schwer im Bereich des sozialen Ausgleichs durch mitgliedstaatliches
Arbeits‐ und Sozialrecht, weil die Union den Verlust mitgliedstaatlicher Regelungsmöglichkeiten wegen fehlender Kompetenz in diesem Bereich und aus Gründen politischer Uneinigkeit nicht durch eigene Gesetzgebung ausgleichen kann.“
Quelle: https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/file?pi=AC15330571&file=AC15330571.pdf
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pierre bourdieu
die regeln der kunst
künstlerische kühnheiten, neues oder revolutionäres sind
überhaupt nur denkbar, wenn sie innerhalb des bestehenden sy-
stems des möglichen in form struktureller lücken virtuell be-
reits existieren, die darauf zu warten scheinen, als potentielle
entwicklungslinien, als wege möglicher erneuerung entdeckt
zu werden. mehr noch: sie müssen aussicht haben, akzeptiert,
das heißt als „vernünftig“ anerkannt zu werden, und zwar zu-
mindest bei einer kleinen zahl von menschen – denselben, die sie
wohl auch selbst hätten entwickeln können.
isbn 3-518-29139-4
s 372 f
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