Noch immer steht die Forderung im Raum: „Wohlstand für alle!“ Realisiert wird sie allerdings erst, wenn die Mitte aufsteht und den Menschen an den sozialen Rändern wirksame Konzepte anbietet.

Es gibt viele Institutionen, die sich „gegen markttotalitäre Strömungen und deren Einflussnahme gegen gemeinwohlorientierte Politik positionieren„. So erfolgreich sie in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld sind, der gemeinsame Kampf gegen strukturell bedingte soziale Ungleichheit oder für eine gerechtere Klima- und Umweltpolitik wird damit nicht gewonnen. Eben deshalb, weil er individuell geführt wird. Nicht einmal gemeinsame Kampagnen der Zivilgesellschaft wie jene zur Realisierung eines Zukunftsbudgets sind hinreichend erfolgreich. Wie denn auch, wenn selbst die so gern als frei titulierte Wissenschaft überwiegend privaten Interessen zu dienen hat. Da bleibt kein Gramm Zeit für Gedanken und Engagements abseits des eingeforderten Mainstreams. Wer will schon seine Karriere opfern für gesellschaftliche Anliegen, die jeweils auch unsere ganz persönlich eigenen sind? Zu sehr formt der Kapitalismus bereits unser Innerstes, als dass er in Einzelkämpfen zu zähmen wäre: Jahrzehnte ziehen übers Land und weder fairer Handel noch CO2-Kompensationen verändern die Welt im erwünschten, ja not-wendigen Ausmaß.

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Dieser Wunsch des Caritas-Präsidenten Michael Landau passt sehr gut zum Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, wonach diese ihre Anliegen „auch im Prozess der Erarbeitung einer neuen Österreichischen Verfassung“ zu vertreten suchen.

Damit konkrete Fairänderungen in unseren Gesellschaften realisiert werden, bevor diese durch Partikularinteressen verhindert werden (können), braucht es über einzelne zivilgesellschaftliche Aktivitäten hinaus eine gemeinsame Stimme, einen Chor der Vielen. Dieser kann nicht breit genug sein: neben den zahlreichen Organisationen der Zivilgesellschaft sind auch nicht– und territoriale Selbstverwaltungskörper sowie Religionsgemeinschaften (siehe zB Sozialwort 2003) für eine gemeinsame Sache zu gewinnen. Auf der Suche nach den dafür geeigneten Helden in unseren Demokratien beschreibt Dieter Thomä die Situation für kämpferische Pluralisten wie folgt:

Viele Menschen, die in pluralistischen Gesellschaften leben, vergessen, dass sie die Vielfalt nicht nur konsumieren, sondern auch konstituieren, gestalten, mittragen müssen. So verschwindet die große Sache hinter lauter kleinen Sachen. Diese Vergesslichkeit ist umso gefährlicher, als es auch Gegner des Pluralismus gibt, die ihre Spielräume gezielt nutzen, um an dessen Abschaffung zu arbeiten. (S 117)

Die Forderung von Betroffenenorganisationen nach Durchführung einer „‚Sozialverträglichkeitsprüfung‘ gesetzlicher Maßnahmen“ oder nach Einführung eines „Health Impact Assessments“ ist ein erstes Aufzeigen in jene Richtung, wo die „große Sache“ des Gemeinwohls, wie zB die Frage nach Gerechtigkeit, verbunden mit jener „kritischen Frage“ nach den Strukturen zu vermuten ist.

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„Wir brauchen so etwas wie eine Gemeinwohlkonzeption

Wie wir gesehen haben, wurden Leistungen im Sinne des Gemeinwohls seit der „Ungleichheitswende“ (Anthony B. Atkinson) am Beginn der 1980er-Jahre weder von Parlamenten, noch von einer Zweiten Kammer in zufriedenstellender Weise erbracht. Jahrzehnte später informierte der Internationale Währungsfonds (IWF) mit dem Paper „Redistribution, Inequality, and Growth“ über die Zusammenhänge zwischen Verteilungspolitik und Wachstum sowie Stabilität:

The Fund has recognized in recent years that one cannot separate issues of economic growth and stability on one hand and equality on the other.

Im Jahresbericht 2018 lesen wir auf Seite 10, sich insbesondere auf die innerstaatliche Einkommensverteilung beziehend: „Ungleichheit verschwendet Ressourcen“ und „Ungleichheit aufgrund schlechter Arbeitsaussichten geht einher mit höheren Kosten.“ Stellen wir beispielsweise Menschen ohne Dach über dem Kopf eine Wohnung zur Verfügung („Housing First„), so kostet dies dem Staat, also uns allen, weniger als würden wir sie obdachlos sein lassen. Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung zeigen als Antwort auf jahrzehntelang steigende Prekarisierung der Arbeitsmärkte vergleichbare Verbesserungen für Lohnabhängige ebenso wie für die (versicherungstechnische) Solidargemeinschaft. In Ermangelung einer wirksamen Lobby (siehe „ungleiche Responsivität„) gibt es daher seit einigen Jahren in verschiedenen Ländern Bürgerräte (Citizens‘ Assemblies), die – wie in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien praktiziert – beispielsweise das Thema festlegen, über das die Bürgerversammlung diskutieren soll. Erst dann nämlich kann so etwas wie „Gemeinwohl“ überhaupt erst entstehen: durch Konsensbildung. Tamara Ehs über die korrigierende Funktion der Bürgerkammer („Bürgerrat„) im Ostbelgien-Modell im Speziellen und vermutlich in Bezug auf jede „zweite Kammer“ im Allgemeinen: „Mit dem Einbezug gewöhnlicher Bürger*innen [Anm.: inkl. Nichtstaatsbürger*innen] soll der Lobbyismus redemokratisiert werden, weil Meinungen von Menschen in den politischen Diskurs Eingang finden, die ansonsten aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ihres Bildungsstatus in der politischen Elite kaum abgebildet sind.“ (Krisendemokratie, S 103) Weil mittlerweile jede*r Dritte zu den News-Deprivierten zu zählen ist, können wir diese Situation mit Aufklärung auch nur dahingehend fairbessern, als diese im Kampf gegen autoritäre Politik zur Stärkung „oppositioneller Alternativmacht“ beiträgt (vgl. Krisendemokratie, S 48).

Norbert Kersting: Die Bürgerräte zeigen sehr deutlich, dass viele Bürgerinnen und Bürger eine starke Gemeinwohlorientierung haben.

Geht es beispielsweise um den Kampf gegen Steuerhinterziehung, dann schlagen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman in Der Triumph der Ungerechtigkeit hingegen vor, „ein Amt für den Schutz der Allgemeinheit“ einzurichten. Ihren Vorstellungen gemäß würde dieses allerdings nur darauf achten, dass der „Geist des Gesetzes ohne Rücksicht auf die an der Macht befindliche Partei zur Anwendung“ gebracht wird. (S 179f)

Allianzen reichen nicht, wir brauchen auch events.

Deshalb Zukunfts- respektive Gemeinwohlwerkstatt

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Über die Idee eines Amtes zum Schutz für die Allgemeinheit hinaus hatte sich Birger Priddat bereits im 3sat-Interview vom 25. 8. 2017 („Die Politik ist nicht mehr souverän„) dafür ausgesprochen, dass „jedes Gesetz, nachdem es formuliert ist“, von Fachleuten einer „neutralen Instanz nochmal begutachtet werden [soll], wieweit es dem Allgemeinwohl dient„. Er nennt es „Gemeinwohlcontrolling von Gesetzen“. Wer diese Fachleute sein sollen: nur Bürger*innen des jeweiligen Landes oder „alle, die hier leben“ betrifft Fragen, die wir vorzugsweise gemeinsam mit vielen weiteren im Rahmen einer Zukunftswerkstatt versuchen könnten zu beantworten. Dieses Format „schafft Raum für nachhaltige Lösungen, die von allen Beteiligten getragen werden“. Am 15. Juni 2022 war es soweit und das Ergebnis dieser Gemeinwohl-Werkstatt lautet: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ (vgl. Willy Brandt, 1969)

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Im oben erwähnten Beispiel in Belgien setzt sich der Bürgerrat aus jenen Personen zusammen, „die bereits an einer Bürgerversammlung teilgenommen haben und somit wissen, wie der Bürgerdialog abläuft„. In Anlehnung an Platon sprach Robert Spaeman vergleichsweise von Philosophenkönigen (vgl. auch die Sieben Diakone oder fachkundige Laienrichter, durch die „gegebenenfalls der nötige nicht juristische Sachverstand in die Entscheidungen einfließen“ [S 4] kann):

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„Wenn sie (Anm.: die Philosophen) edler sind als das Volk der Gewerbetreibenden, dann deshalb, weil sie nicht aus sind auf Geld und Genuß, sondern auf Ehre. Und Ehre ist die Gratifikation, die das Gemeinwesen für sie bereit hat. Es ist eine immaterielle Entschädigung, und sie ist unmittelbar definiert durch das, wofür man sie erhält: den Dienst am Gemeinwohl.“ (vgl. auch Werner Veith über Philosophenkönige in: Gemeinwohl)

Dieter Thomä spricht von „charismatischen Führungsfiguren“, die „für ebenjene Gestaltungskraft [stehen], die in der Politik jenseits des Sachzwangs gefragt ist“. (a. a. O., S 112)

Michael J. Sandel in Vom Ende des Gemeinwohls: „Generell ist es wünschenswert, dass die Regierung mit gut ausgebildeten Leuten arbeitet – vorausgesetzt, sie besitzen ein gesundes Urteilsvermögen und ein einfühlsames Verständnis für das Leben der arbeitenden Menschen. Aristoteles nannte das praktische Klugheit und Bürgertugend. Doch die Geschichte offenbart wenig Verknüpfungen zwischen prestigeträchtigen akademischen Zeugnissen und praktischer Klugheit oder einem Instinkt für das Gemeinwohl im Hier und Jetzt.“ (2020, S 145)

Erste Überlegungen zur Einrichtung eines Bundes- & Gemeinwohlrates

Allein aus den Analysen von Michael J. Sandel zu den Ungleichheit akzeptierenden (S 155) Folgen einer „Abneigung [Anm.: nicht nur von Gebildeten] gegenüber Ungebildeten“ (S 153) dürfen wir auf das demokratiepolitische Erfordernis schließen, eine ausgleichende sozioökonomische Durchmischung auf der Ebene der Legislative anzustreben, um so „der populistischen Reaktion auf die Eliten“ (S 152 f) präventiv zu begegnen. „Gutes Regieren“, so Michael J. Sandel, „erfordert praktische Klugheit und bürgerliche Tugend (Anm.: vgl. Platon) – die Fähigkeit, über das Gemeinwohl zu verhandeln und es wirksam zu verfolgen.“ (S 159) Dennoch sieht die Realität in der (partei-)politischen Landschaft so aus: „Auf Bürger ohne Uni-Abschluss sah man in den 2000ern nicht nur hinab; in den USA und in Europa waren sie von gewählten Posten praktisch ausgeschlossen.“ (S 155)

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Den Einzelnen fehlt der Überblick: Genau deshalb braucht es eine Institution für Gemeinwohlcontrolling als Spielraum der Gegenmacht, beispielsweise in der Form einer reformierten zweiten Kammer. Der Weg dorthin kann über eine Adaptierung der Bestellungsmodi von Mitgliedern des Bundesrates führen oder die erforderliche Verfassungsreform wird von Beginn an angestrebt. Der zweitgenannte Weg führt allerdings nicht wie der bisherige Versuch über einen Österreich-Konvent. Denn der ausbleibende Erfolg desselben hat gezeigt, dass diesem u. a. die dafür notwendigen emotionalen Identitätseffekte einer breiten Zivilgesellschaft fehlte. Barbara-Anita Blümel: „Die Atmosphäre einer Verfassungsrevision müsse daher durch einen breit angelegten Diskurs mit der Zivilgesellschaft geschaffen werden.“ (S 218) Was bisher auf Gemeindeebene und international gelang, sollte auch national möglich sein. Denn eines steht auf jeden Fall fest: eine „starke Demokratie braucht [eine] starke Mitbestimmung„, selbstverständlich auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen, insbesondere jenen mit hierarchischen Entscheidungsstrukturen.

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7 Kommentare zu „Gemeinwohlkonzeption: ja, aber wie?

  1. Abseits der erwähnten Konsensbildung, zu der alle eingeladen werden sollen, würde auch die „utilitaristische Maxime“ scheitern, „derzufolge das Gemeinwohl über dem Interesse Einzelner steht“. (Anton Christian Glatz)

    Für Hans Holzinger liegt „die Chance für eine Post-Corona-Wirtschaft … in einem größeren Strukturwandel, der zugleich ein Paradigmenwechsel wäre – weg vom simplen BIP-Wachstum hin zum Wachstum dessen, was der Lebensqualität dient. Das Erste: Unterstützungsmaßnahmen müssen sozial und ökologisch verträglich erfolgen – man könnte auch sagen, gemeinwohlorientiert.“ Damit sich diese in einer Demokratie auf allen Ebenen durchsetzen können, braucht es letzten Endes auch entsprechende Geschäftsordnungen von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.

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  2. Sofern wir uns nach eingehender Prüfung* von der Gründung einer neuen Institution mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Land erwarten dürfen, wieso sollten wir dann nicht gemeinsam darüber nachdenken und beraten, wie wir dies bewerkstelligen wollen?

    *| Michael J. Sandel: „Auseinandersetzungen über Gerechtigkeit und Rechte sind oft Debatten über die Zielsetzung oder das Telos einer sozialen Institution.“ (Gerechtigkeit, S 261) Genau darüber sollten wir uns im Rahmen einer Zukunftswerkstatt austauschen.

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  3. Mein Kommentar anlässlich des 75. Jahrestages der Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen:

    Der ewige Frieden zwischen den Nationen gedeiht durch den ewigen Frieden innerhalb der Nationen.

    Bemühungen in diese Richtung gibt es ja bereits zahlreiche, angefangen von Bürgerbeteiligungsmodellen in verschiedenen Regionen, Städten und Ländern sowie Überlegungen zur Etablierung eines Gemeinwohlrates im Rahmen prozessualer Genehmigungsverfahren von Gemeinwohlinitiativen (S 3). Passend auch zur Übung, den „ewigen Frieden“ auf Erden zu finden: Nicht nur im übertragenen, womöglich sogar in einem urchristlichen Sinn gedacht könnte der funktionierende Sozialstaat als Tempel zur Gottesanbetung gedeutet werden. Mit „funktionierend“ meine ich, dass die Bemühungen um einen sozialen Ausgleich tatsächlich so weit reichen niemand zurück zu lassen – weder Flüchtlinge noch sonst jemand, wie beispielsweise all jene, die angesichts der seit Jahrzehnten steigenden Erwerbslosigkeit prekäre Lebenssituationen erleiden müssen.

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  4. Selbst jemand wie Erwin Riess, der üblicherweise schreibend und vortragend die Welt zum Besseren wenden will, sagt heute in der Oe1-Sendung „Punkt eins“: „Gesetze ändern das Bewusstsein„. Als Behindertenorganisation favorisiert er offensichtlich die Interessenvertretung „Selbstbestimmt leben„.

    Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass wir allein durch das Einhalten von Gesetzen nicht gerecht werden können, zur „äußeren Gerechtigkeit“ können gemeinwohlorientierte Gesetze allerdings sehr wohl beitragen:

    … erst eine innere Bekehrung verwandelt die äußeren Umstände, aber zugleich stützen und ermöglichen äußere gerechte Zustände eine innere Bekehrung des Menschen zum Guten, der ohne äußere Gerechtigkeit der inneren Lieblosigkeit zum Opfer fiele.

    Peter Schallenberg, in: Zivilökonomie, 2013, S 23

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