2019-09-08_Standard-Interview_Cornelia-Koppetsch_Gruene-und-Kosmopoliten-tragen-zur-Segregation-bei

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil … die Bekämpfung der relativen Armut [erfordert], dass man den Reichtum antastet. (Christoph Butterwegge)

Gesellschaftliche Teilhabe: was ist das?

“Gesellschaftliche Teilhabe” ist gleichzusetzen mit dem Begriff Partizipation. Dieser wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich interpretiert. “In der Soziologie bedeutet Partizipation die Einbeziehung von Individuen und Organisationen (sogenannte Stakeholder) in Entscheidungs- und Willenbildungsprozesse. Aus emanzipatorischen, legitimatorischen oder auch aus Gründen gesteigerter Effektivität gilt Partizipation häufig als wünschenswert. Partizipation kann die unterschiedlichsten Beteiligungsformen annehmen (z. B. Bürgerbeteiligung, betriebliche Mitbestimmung, Interessenverband, politische Partei). Partizipation gilt als gesellschaftlich relevant, weil sie zum Aufbau von sozialem Kapital führen kann und dann soziales Vertrauen verstärkt.” (Wikipedia)

2019-12-27_Solidaritaet-braucht-Vertrauen

Auf dem Weg zu einer partizipatorischen Demokratie

Auf Selbstbesteuerung, freiwillige CO2-Kompensation oder sonstwie auf Philanthropie (wie überhaupt auf Freiwilligkeit) zu setzen bringt uns keinen Schritt weiter in Richtung nachhaltigere, menschenwürdigere und gesündere Gesellschaft. Ebensowenig wie Aufklärung (vgl. Michael J. Sandel & Per Molander) … könnten wir überspitzt behaupten, denn sie hat in der Demokratie nicht verhindert, dass in politischen Entscheidungsprozessen selektive Responsivität” existiert (S 176):

Auf eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Präferenzen und politischen Entscheidungen können untere Einkommensgruppen nur hoffen, wenn diejenigen mit hohen Einkommen dasselbe wollen. Weichen sie jedoch voneinander ab, spiegeln politische Entscheidungen die Präferenzen einkommensstarker Gruppen wider. Ein sehr ähnliches Muster zeigt sich beim Vergleich der mittleren mit de[n] obersten Einkommensgruppen, …”

Verstärkt wird dieser Aspekt noch zusätzlich durch eine niedrigere Wahlbeteiligung jener, die ohnehin bereits am sozialen Rand der Gesellschaft leben:

2020-06-30_jbi_wien-waehlt-nicht_tamara-ehs_wahlbeteiligung-und-arbeitslosigkeitDie Kritik von Cornelia Koppetsch ernst nehmend und vielleicht auch als Beitrag zur „Rettung“ der Demokratie sollten wir die Grenzen unserer gruppenbezogenen Weltsichten sprengen und gesellschaftliche Teilhabe mittels „Brot, Wahlen & Spielen forcieren.

Begünstigt wird dies durch die Tatsache, dass die Mittelschicht sich selbst betrügt”. Ulrike Herrmann dazu in ihrem Gastkommentar:

“Auch Lobbyisten sind nur deshalb erfolgreich, weil sie auf das Selbstbild der Mittelschicht zielen. Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen deren Ängste und Vorurteile. Wenn Lobbyisten Privilegien für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass diese ebenfalls zur Elite gehört.”

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Wahlbeteiligung auch unter den Studierenden über Jahrzehnte hinweg gesunken ist und im Jahr 2021 schließlich demokratiepolitisch bedrohliche Ausmaße angenommen hat:

2021-11-29_Standard_Beteiligung-an-OeH-Wahlen-seit-1955

Armut und soziale Teilhabe

Die Nationale Armutskonferenz (nak) hat diesbezüglich das Positionspapier „Soziale Teilhabe und ein menschenwürdiges Existenzminimum“ erarbeitet. Zwei Vorschläge daraus lauten:

  • Um Armut zu überwinden, sind Beiträge, Hilfen und Dienstleistungen zur sozialen Teilhabe nötig, die sich nicht unmittelbar an arbeitsmarktpolitischen Erfolgsindikatoren messen lassen.
  • Für eine Verbesserung der sozialen Teilhabe ist eine funktionierende soziale Infrastruktur vor Ort, gerade auch in benachteiligten Stadtteilen, unerlässlich.
2019-10-23_Arbeiterkammer_Ulrike-Famira-Muehlberger_zur-oekonomischen-Notwendigkeit-eines-investiven-Sozialstaats

Auszüge aus einem Beitrag von Ulrike Famira-Mühlberger in: „PERSPEKTIVEN FÜR SOZIALEN FORTSCHRITT – SOZIALINVESTITIONEN HABEN EINE MEHRFACHDIVIDENDE„, hrsg. von Adi Buxbaum im August 2014, S 27ff

Widerstände in Politik und Gesellschaft

Die folgenden Auszüge ausDie Verharmlosung der Armutvon Christoph Butterwegge:

  • Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut (Anm.: siehe Chile), weil die Einkommensverteilung so beeinflusst werden muss, dass niemand zu weit nach unten vom Mittelwert abweicht. Denn im Unterschied zur absoluten Armut, der man auf karitativem Wege, das heißt mit Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern und Möbellagern begegnen kann, erfordert die Bekämpfung der relativen Armut, dass man den Reichtum antastet.
  • Hier dürfte auch einer der Gründe dafür liegen, warum die Existenz relativer Armut gerade von Personen in Abrede gestellt wird, die zu den Privilegierten, zu den Besserverdienenden und zu den Vermögenden gehören.

… und aus dem bereits erwähnten Gastkommentar von Ulrike Herrmann: Die Mittelschicht betrügt sich selbst:

  • Die deutsche Mittelschicht stellt die meisten Wähler, verliert aber immer mehr politischen Einfluss. Schuld ist das Bürgertum selbst: Es grenzt sich von den Armen ab, wähnt sich an der Seite der Vermögenden – und stärkt damit genau jene, die sich auf seine Kosten bereichern.
  • Im Kampf um die eigene Karriere entgeht der Mittelschicht, wie unerreichbar die Eliten sind, die ihren Status nicht etwa durch Leistung erwerben, sondern von
2019-10-24_Spiegel_Ulrike-Herrmann_Die-Mittelschicht-betruegt-sich-selbst_Auszug
Ulrike Herrmann: „Tatsächlich haben die jüngsten Steuerreformen vor allem die Spitzenverdiener begünstigt, während die Mittelschicht damit allein gelassen wird, die wachsende Zahl der Armen zu finanzieren.“

Generation zu Generation vererben: Die obersten zehn Prozent besitzen bereits 61 Prozent des gesamten Volksvermögens und kassieren 36 Prozent aller Einkünfte. Die Mittelschicht überschätzt ihren Status aber auch, weil sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das Vorurteil, dass die Armen Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose „ein schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen“. Aus dieser Verachtung für die Unterschicht entsteht eine fatale Allianz: Die Mittelschicht wähnt sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet werde. Die Mittelschicht wird so lange für die Reichen zahlen, wie sie sich selbst zu den Reichen zählt.

… weisen auf Widerstände in der Gesellschaft hin, die weniger auf dem Weg zu einem investiven Sozialstaat zu überwinden sind, als vielmehr im Zuge einer absichernden Sozialpolitik, denn:

Zur angedachten “Strukturveränderung des Sozialstaates” und den politischen Kräften, die dahinter wirken, schreibt Lea Elsässer in “Ungleiche politische Repräsentation und sozialstaatlicher Wandel” (S 553):

“Insgesamt bestätigen diese Ergebnisse das Argument, dass der Umbau zu einem weniger absichernden und stärker beschäftigungsfördernden Sozialstaat von der Unterstützung mittlerer und oberer sozialer Klassen getragen wird. 2019-10-28_AK-Oesterreich_kontrast-at_Sozialinvestitionen-schaffen-ZukunftsvermoegenDer Ausbau sozialinvestiver Leistungen wurde dabei aber sowohl von unteren als auch von oberen sozialen Klassen stark befürwortet, wohingegen die maßgebliche Konfliktlinie in Bezug auf die Kürzungen in der absichernden Sozialpolitik verlief*. Dass Ausweitungen ausschließlich dann stattfanden, wenn die jeweilige Maßnahme auch von oberen Berufsgruppen befürwortet wurde, zeigt, dass untere Berufsgruppen höchstens ‘coincidental representation’ (Enns 2015), aber keine substantielle politische Repräsentation erfahren. Dies gilt im gesamten Untersuchungszeitraum – und damit auch für Regierungskoalitionen unterschiedlichster Couleur. Dieser Befund kann aus demokratietheoretischer Perspektive auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Gruppe der Arbeiter/-innen zahlenmäßig kleiner geworden ist, da im gleichen Zeitraum der Anteil der Angestellten im unteren Dienstleistungssektor stetig größer geworden ist – und diese gleichermaßen von der Schieflage politischer Repräsentation betroffen sind.”

2020-01-09_das-Preston-Modell-als-Antwort-auf-neoliberale-Ambitionen
Julia Eder berichtet am Beispiel der Stadt Preston über Möglichkeiten, Wohlstand lokal aufzubauen

Wo sollen wir also ansetzen, damit wir den Kampf gegen Armut nachhaltig gewinnen?

Weitere Hinweise für die Suche nach Antworten

“Auf eine Übereinstimmung zwischen den eigenen Präferenzen und politischen Entscheidungen können untere Einkommensgruppen nur hoffen, wenn diejenigen mit hohen Einkommen dasselbe wollen. Weichen sie jedoch voneinander ab, spiegeln politische Entscheidungen die Präferenzen einkommensstarker Gruppen wider.” (L. Elsässer et al., in: „Dem Deutschen Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags, S 176)

2019-11-04_iza-org_Veraenderung-in-der-Verteilung-des-aequivalenzgewichteten-Nettoeinkommens-2001-2011
2019-10-25_Markus-Marterbauer_Grafik_Abgabenquote-vs-Sozialquote_1970-2018

In seinen tweets vom 23. Oktober 2019 weist Markus Marterbauer darauf hin, dass unser Sozialstaat in Österreich mittels Steuern und Beiträgen ausgebaut wurde und die angebliche Schuldenfinanzierung somit eine neoliberale Mär ist.

sonnengleichnis
… so bewirkt das Gute das Sein und Wesen der geistigen Wirklichkeit

*| Hervorhebungen vom Autor dieses Beitrags

Die Inhalte hier basieren auf den Vorbereitungen zum Workshop „Gesellschaftliche Teilhabe“ im Rahmen der ersten Tagung des Armutsnetzwerks Steiermark am 29. 10. 2019 zum Thema „Der Sozialstaat sind wir alle„.

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